Der Fluss

Heute kommt ein etwas ungewöhnlicher Beitrag, ein Text der beim allmorgendlichen Ausmisten der Pferdeboxen quasi als ‘Gesamtpaket’ in meinem Geist auftauchte. Nun bin ich ja kein Dichter und kann daher nur hoffen, dass es mir gelingt, ein wenig von der erstaunlichen Weisheit zu Papier zu bringen, die in der Tiefe dieses Bildes ruht.

Du stehst am Ufer eines Flusses; Dein Blick ist versunken in das Strudeln und Kreisen, das endlose Heben und Senken und Strömen der Wasser. Der Fluss hat einen Namen und er ist als gewundener, blauer Strich auf der Landkarte verzeichnet.
Dein Weg führt Dich flussaufwärts, dorthin, wo der klare Bach gurgelnd über glattgeschliffene Steine springt und unter tiefhängenden Zweigen dahinrauscht. Der Bach trägt denselben Namen; eine hauchdünne Linie auf der Landkarte.
Und Du wendest Dich flussabwärts, dorthin, wo der breite Strom die tonnenschweren Schiffe ihrer Bestimmung entgegen trägt. Derselbe Name und ein blauer Streifen auf der Landkarte.
An der Mündung schaust Du den majestätischen Wassern nach, die sich in der unermesslichen Weite des Meeres wiederfinden. Kein Name antwortet mehr, und kein Strich auf der Landkarte.

Du kehrst an das Ufer zurück, wo alles begann, da fühlst in der Wärme Deiner Brust, wie das drehende Tanzen der Wasser dieses Flusses, wie ihre Hingabe an Fels und Steilhang, und wie ihr dahinziehen, ja, vor allem das Dahinziehen, Dein Herz aufs Tiefste bewegt haben.
“Wer bist du?” fragst Du den Fluss. – Stille. Nur dann und wann ein leises Glucksen.
“Wer bist du? Woher bist Du gekommen an deiner Quelle, wohin bist Du gegangen an deiner Mündung?” – Stille, nur das Kräuseln eines Windhauchs. Was könnte der Fluss auch antworten?
“Wer bist du? – Hallo! – Ist da jemand?” rufst Du dem Fluss zu. Eine gute Frage: ‘ist da jemand?’.

Du hast seine vielen Windungen und Engpässe kennengelernt, Du bist vertraut geworden mit dem Fluss, bei Regen, Sturm und Sonnenstrahl. Der Fluss hat die Liebe in Dir erweckt, ist so groß und so klein, ist rauh und zärtlich zugleich. Aber – ist da jemand?
Die strömenden Wasser vor Deinen Augen sind niemals dieselben – sie sind nicht der Fluss.
Das Flussbett, doch nur Erde und Gestein, gehört ganz sich selbst – es ist nicht der Fluss.
Die Fische und Enten und Schiffe sind Gäste für einen Augenblick – sie sind nicht der Fluss.
Der kurze Abschnitt, an dessen Ufer Du stehst, ist nur ein winziger Bruchteil – er ist nicht der Fluss.
Der Name ist nur ein Klang im Wind, und der blaue Strich nur ein wenig Tinte auf Papier – sie sind nicht der Fluss.

Wer hat Dein Herz berührt? Wem kannst Du Deine Tränen danken? Wer hat Dich an’s andere Ufer getragen, Dich erfrischt und Dir verständnisvollen Trost gespendet, wenn da doch niemand ist?

Der Fluss?
Der Fluss…..

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Hartwig

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