Vergänglichkeit

Ein weithin bekannter Holzschnitzer und Bildhauer arbeitete mit seinen drei Söhnen gemeinsam in einer Werkstatt, und sie schufen die vollendetsten Kunstwerke, die je gesehen wurden.
Eines Tages sprachen die Söhne untereinander: “Jedes Werkstück erschaffen wir immer gemeinsam mit unserem Vater, und wissen doch gar nicht, was ein jeder von uns aus seiner eigenen Kraft und Geschicklichkeit heraus zu vollbringen vermag.”
Nachdem die Brüder ihrem Vater ihr Anliegen vorgetragen hatten, beschlossen sie gemeinsam, dass jeder Sohn für ein Jahr in die Welt gehen solle, um sich selbst zu erproben und zu beweisen. Nach genau einem Jahr aber würde der Vater seinen Diener nach ihnen aussenden, auf dass alle wieder zu einem Fest zusammenkommen sollten, und sich gemeinsam an ihren neuen Erfahrungen erfreuen würden.

Den ersten Sohn zog es in die Berge, wo er ein edles und ebenmäßiges Gestein fand, geradezu geschaffen für Kunstwerke, die alle Zeiten überdauern könnten. Entschlossen begann er die Arbeit an einem Relief, welches die Gottheit und ihre gesamte Schöpfung darstellen sollte. Als sich das Werk in seiner Pracht bereits weit entfaltet hatte, traf der erste Bruder jedoch in einem Augenblick der Unachtsamkeit mit dem Meißel nicht richtig auf den Stein, und trennte so einen ganzen Finger von der machtvollen Hand der Gottheit.

Der zweite Sohn gelangte in eine Ebene reich an geschmeidiger und elastischer Tonerde, die  bereit war, unter seinen schöpferischen Händen eine jede Gestalt anzunehmen. Er entdeckte zudem, dass der Ton ihm erlaubte, jedes Detail wieder und wieder zu bearbeiten, es immer weiter zu verbessern und zu vervollkommnen. Beflügelt von solch’ unerschöpflichen Möglichkeiten, ersann der zweite Bruder glühende Pläne für sein Werk.

Der dritte Sohn erreichte schließlich einen Meeresstrand voller feinstem, glitzernden Sand. Eifrig machte er sich an den Aufbau einer kühnen Skulptur, doch des Abends erhob sich die Flut und überspülte den gesamten Strand. Auch am kommenden Tage erfuhr sein in Arbeit befindliches Werk das gleiche Schicksal. So übte sich denn der dritte Bruder eines jeden Tages an neuen Ideen, lernte schnell, sorgte sich nicht um seine Fehler, und begann stets von vorn, wenn die nächtliche Flut ihm wieder alles genommen hatte.

Nach Ablauf eines Jahres schickte der Vater nun voller Sehnsucht seinen Diener aus, um seine Söhne nach Hause zu rufen.
Den ersten Sohn traf der Diener in tiefer Gram versunken an. “Nein, nein, ich kann jetzt nicht mit dir kommen. Später kann ich vielleicht zu meinem Vater aufbrechen, doch zunächst muss ich erst die Enttäuschung und Trauer über mein Missgeschick und mein Versagen überwinden.”

Als der Diener den zweiten Sohn aufsuchte, sprach dieser in fieberhaft erregter Konzentration: “Nein, gerade jetzt kann ich nicht mit dir kommen. Später, später werde ich mich auf den Weg machen; siehst Du denn nicht, dass ich an einer perfekten Skulptur des menschlichen Körpers arbeite, und noch die Konturen der Waden, der Hüfte und der Wangen verfeinert werden müssen?!”

Mitten in die Arbeit vertieft war auch der dritte Sohn, als der Diener schließlich zu ihm fand. Er war dabei, zwei strahlende Gesichter zu modellieren, deren Blicke einander in aller Tiefe durchschauten. “Ist tatsächlich schon ein ganzes Jahr vergangen? Ja natürlich, gerne werde ich mit dir nach Hause kommen!” Ohne ein Zögern ließ der dritte Sohn sein unvollendetes Werk zurück, um in tiefer Freude dem Ruf seines Vaters zu folgen.

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Hartwig

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